Angstgegner

Published in FROH! magazine n°8, Spiel, May 2012.

“Wenn du Glück hast, bekommst du einen Stier, der schnell und gerade läuft. Die langsamen Stiere, die sich schnell ablenken lassen oder faul sind, die sind nichts. Noch schlimmer sind die, die schlenkern, die überall hin gucken ausser da wo sie hin sollen. Die sind unberechenbar. Am allerschlimmsten aber sind die, von denen du glaubst dass sie gut sind weil sie schnell und gerade laufen, die dann aber im letzten Moment den Kopf hochreissen. Die Schlauen. Das sind die ‘hijos de puta’ – die Hurensöhne. Nein, du willst einen Stier, der schnell und gerade läuft, aber nicht zu viel im Kopf hat.” 

Iván Sánchez steht vor dem kleinen Verwaltungsgebäude der Stierkampfarena von Brihuega und wärmt sich auf. Er hüpft von einem Bein auf das andere, dehnt die Oberschenkel, dann die Arme. Iván trägt weisse Trainingshosen und ein weiss-rotes T-Shirt mit der Aufschrift eines Sponsors, dazu Turnschuhe. Der 22-jährige sieht aus als gehöre er auf einen innerstädtischen Basketballplatz, nicht in eine Stierkampfarena. 

In Brihuega, einem Dorf in der Sierra von Guadalajara, 85 Kilometer nord-westlich von Madrid, ist an diesem Wochenende feria. Und auch wenn Brihuega nur 2.800 Einwohner hat, auf seine feria ist es stolz. Feria bedeutet: Stiere. Die Hauptstrasse wurde schon abgesperrt für die encierros, bei denen eine Herde Kühe und ein paar Jungbullen quer durchs Dorf und bis in die Arena gejagt werden. Die Poster für die Stierkämpfe hängen seit Wochen, und das Dorf ist festlich geschmückt. Aber heute gibt es noch keine Männer in glitzernden Uniformen, keinen Pomp, keine stolzen Pferde und keine Stars. Heute sind die Jungs dran, Iván, Jorge Cervera, El Parri. Die Schweisser, Handwerker, Elektroingenieure. Die Amateure. Sie werden dem Stier nichts zuleide tun. Wenn heute Blut fliesst, dann wird es menschliches sein.

Iván ist ein recortador, ein Stierspringer. Die recortadores gibt es schon seit es in Spanien ferias gibt, man hat sie nur nicht immer so genannt. Es sind die jungen Männer, die bei encierros mit den Tieren durch die Strassen laufen, sie herausfordern, ihnen im letzten Moment ausweichen. Die ein bisschen Show machen. Und dabei unbewaffnet sind. 

Spaniens Verhältnis zu seinen Stieren ist ambivalent und zu Recht oft kritisiert worden. Dennoch ist das Bild komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Stiere gehören zur spanischen Kultur wie Fussball, vor allem auf dem Land. Sie sind allgegenwärtig, werden verehrt wie Rennpferde und zum Teil ähnlich aufwändig gezüchtet. Die Spanier identifizieren sich mit diesem Tier – schon lange bevor der andalusische Sherry-Hersteller Osborne anfing, riesengrosse schwarze Silhouetten von Stieren auf Hügeln entlang der Landstrassen des Landes zu verteilen, und den Stier als Markenzeichen etablierte. Sogar mit dem Glauben sind sie eng verbunden: im erzkatholischen Spanien vergeht kaum ein christlicher Feiertag ohne Stierspektakel. Aber natürlich stehen sie auch für eine ungezähmte, unzivilisierte und machistisches Natur – ein nationales Klischee, das Schrifsteller wie Hemmingway geradezu angezogen hat. Ein Klischee, das die Spanier allerdings auch selbst pflegen und aufrechterhalten. Und, so einfach es klingt: Vielleicht ist das auch die erste Erklärung dafür, warum sich junge Männer in einem ungleichen Zweikampf mit einem Stier messen. ‘Con dos cojones’, mit zwei Eiern – und jeder Menge Testosteron. 

 

Ein recorte, oder auch corte, ist eine Ausweichbewegung. Der Stier läuft auf den recortador zu – je schneller, desto besser – und dieser dreht sich im letzten Moment vor ihm zur Seite, macht ein Hohlkreuz und lässt das Tier unter seinem Rücken durchlaufen. Danach dreht er sich, streckt die Brust raus, presst die Beine zusammen und wirft den Kopf und den rechten Arm in die Luft. Wenn er nicht schnell wegrennen muss. 

Irgendwann fingen die Gemeinden an Wettkämpfe für die Jungs zu organisieren, seit ein paar Jahren gibt es auch Privatveranstalter und seit 2003 sogar eine Art nationale Liga. Gegen Ende der Saison treten die zwölf besten recortadores gegeneinander in der Madrider Arena Las Ventas an, der grössten des Landes. Den Wettkampf in Brihuega organisiert Toropasión, der wichtigste Veranstalter. Einer der Angestellten kommt jetzt in das Umkleide- und Verwaltungshäuschen und beginnt mit der Auslosung der Gruppen und Stiere. Zweimal vier und einmal fünf Jungs kommen auf einen Stier, der Gewinner aus jeder der drei Gruppen und der viertplatzierte werden in der letzten Runde mit dem besten Stier zusammenkommen. Über den Sieger entscheidet eine Jury nach Punkten.  

Es gibt zwei Typen recortadores. Die, die vor dem Wettkampf ihre Nervosität ausleben, scherzen, rauchen, lachen und dann in einem unbeobachteten Moment auf einmal besorgt dreinblicken. Zu denen gehören Iván und die meisten anderen. Und es gibt die, die sich von der Gruppe absondern und in eine Art Meditation fallen, wie Jesús Sanz, den alle nur “El Parri” nennen, und Sergio Delgado, die zu den besten recortadores des Landes gehören. Oft sind die ruhigeren die älteren, die, die sich am wenigsten produzieren und bei denen man am wenigsten versteht, warum sie das hier eigentlich machen. Die, die einen festen Job, eine Freundin und vielleicht auch ein Kind haben, aber trotzdem nicht loslassen können. In der Arena, wenn das Adrenalin den Blick fokussiert und jede Bewegung lenkt, sind diese Unterschiede vergessen. Vor den Stieren sind alle gleich. Konzentriert. Ruhig. Kontrolliert. 

Als die Gruppen ausgelost und die Regeln noch einmal verlesen sind, holt Iván einen Stapel in Plastik eingeschweisster Bilder heraus, kniet sich in eine Ecke und betet. Abgebildet sind die Jungfrau Maria, Jesus Christus, diverse Heilige und ein Freund, der bei einem Wettkampf ums Leben kam.  “Das Wichtigste ist, dass man vor einem Wettkampf weder trinkt noch kokst,” erklärt er danach. “Sonst gerinnt bei einer Verletzung das Blut nicht schnell genug.” 

Verletzungen gibt es auf so gut wie jedem Wettkampf, die Jungs wissen das. Wie schlimm sie ausfallen, hängt nicht nur vom Zustand des Blutes ab, sondern auch vom Gewicht des recortadors – je weniger Widerstand desto besser – und bei welchem Trick er von den Hörnern erwischt wird. 

Nebem dem traditionellen recorte, der vielleicht gefährlichsten Figur, gibt es den quiebro, bei dem der Mann ruhig dasteht und erst im allerletzten Moment dem auf ihn zu rasenden Stier mit einem kleinen Schritt zur Seite ausweicht. (Gerne wird der quiebro auch auf Knien gemacht, was natürlich noch spektakulärer und gefährlicher ist.) Und dann gibt es die saltos, die Sprünge, entweder Kopf zuerst, mit ausgestreckten Armen (salto de ángel oder Engelsflug), oder als salto mortal, frontal oder schräg über den Stier. 

Alle Figuren zählen gleich viel im Punktesystem, was ältere Stierkampfliebhaber oft fuchst. Sie meinen, der recorte, als traditioneller und auch gefährlichster Trick, sollte bevorzugt werden; alles andere sei doch nur Zirkus. Das Preisgeld variiert leicht, hier in Brihuega sind es 1.300 Euro für den ersten Platz. Iván schätzt dass er in den letzten vier Jahren im Durchschnitt an 80 Wettkämpfen pro Saison teilgenommen und dabei ungefähr 24.000 Euro pro Jahr verdient hat. Einen “richtigen” Job hat er nicht. 

Der Wettkampf geht los, über die Lautsprecher plärrt der Soundtrack des Films Gladiator. Die Jungs stehen in einem Kreis in der Arena, ein Name nach dem anderen wird aufgerufen, sie gehen in die Mitte, winken. Ein Mann trägt ein Schild mit dem Namen, Züchter und Gewicht des ersten Stiers durch die Arena. Das Publikum klatscht und pfeift begeistert. Die Arena ist voll. Dann verschwinden die Jungs hinter die Bande, die vier Teilnehmer der ersten Runde geben sich die Hände und klopfen sich auf die Schultern. Dann kommt der Stier. 

Er stürmt in die Arena und alle, recortadores und Publikum, versuchen sofort ihn einzuschätzen. Was ist er – ein Fauler, ein Unberechenbarer, ein hijo de puta? Kaum aus der Tür ist der Stier schon abgelenkt und rennt links gegen die Bande. Jorge Cervera mit seinem düsteren Blick und den langen Locken im Nacken, stellt sich in die Mitte der Arena, streckt die Leisten nach vorne als wollte er den Stier damit herausfordern wie mit einem roten Tuch. Der Stier würdigt ihn keines Blickes. Die anderen schlagen gegen die Bande, rufen aus der anderen Richtung, wedeln mit den Händen. Aus dem Publikum ruft jemand: “Tírale pipas! – Wirf ihm ein paar Sonnenblumenkerne hin!” Alle lachen. Endlich dreht sich das Tier und sieht den Mann in der Mitte der Arena, senkt den Kopf, nimmt Anlauf... und Jorge tritt im letzten Moment mit einem Schritt nach rechts zur Seite, ruhig und gefasst, und lässt den Stier vorbeilaufen. Ein perfekter quiebro. Doch der Triumph währt nur eine Sekunde. Sofort sind seine drei Teamkollegen in der Arena und lenken den Stier ab, um Jorge einen würdigen Abgang zu erlauben. 

Man sagt, Stiere seien schon im alten Rom beim Gladiatorenkampf eingesetzt worden. Die recortadores sind moderne Gladiatoren. Anders als beim “normalen” Stierkampf steht hier der Sieger nicht im Voraus fest. Es kommt zwar nur selten vor, dass ein Springer tödlich verwundet wird, aber Verletzungen gibt es bei fast jedem Wettkampf. Wieso misst sich jemand zwei Stunden lang mit einer Bestie aus einer halben Tonne Muskeln und Hörnern mit der gleichen Chance auf 1.000 Euro wie auf einen Krankenhausaufenthalt? 

Ein Grund ist natürlich der Adrenalinkick. Von dem sind sie alle abhängig. “Ich war ungefähr 10 Jahre alt und bei einem encierro. Auf einmal lief eine Kuh auf mich zu und es gab nichts zum Draufklettern, also habe ich einen recorte gemacht. Es kam mir so einfach vor und dieser Adrenalinstoss fühlte sich so gut an, dass ich dabei blieb. Mit 15 nahm ich an meinem ersten Wettkampf teil.” So erzählt es ein junger recortador in Brihuega. Ein anderer, César García, ist 32 und erst seit drei Jahren dabei. “Ich hab auf einmal richtig danach gebrannt, also hab ich’s ausprobiert – und es hat mir gefallen.” Seitdem nimmt der Elektroingenieur an 20 oder 25 Wettkämpfen im Jahr teil, fünf oder sechs davon gewinnt er. Und ein älterer, ehemaliger Wettkämpfer fügte hinzu: “Das schöne an der ganzen Sache ist die Kameradschaft.” 

Die Kameradschaft ist ebenso offensichtlich wie beeindruckend. Es mag nur einen Gewinner geben, trotzdem ist recortar ein Teamsport. Und anders als bei Fuss- oder Basketball hängt nicht der Sieg vom Team ab, sondern das Leben. Denn wenn die Kameraden nach einem Trick, sei er geglückt oder misslungen, nicht sofort in die Arena laufen und den Stier ablenken würden, dann hätte ein Einzelner wenig Chancen. Ausserhalb der Arena sind die recortadores locker befreundet, drinnen sind sie Blutsbrüder. 

Genauso wenig wie die Spieler der Fussball-Lokalliga davon träumen, Profis und Erstligisten zu werden, möchten die recortadores später einmal Toreros werden, die bewaffnete Stierkämpfe bestreiten. Wer Stierkämpfer wird, entscheidet sich sehr früh. Letztlich hängt es stark vom Geld ab, denn der blutige Kampf der Matadoren ist vor allem ein Spektakel für Spaniens Elite. Für die recortadores bleibt der Stiersprung ein Hobby, das mit dem traditionellen Stierkampf nicht viel zu tun hat. Sie wissen, dass sie irgendwann einmal damit aufhören werden müssen, weil andere Dinge im Leben wichtiger sind. Aber noch denken sie nicht daran.  

Der zweite Stier ist viel grösser als der vorherige. Er rast in die Arena und bevor man ihn noch richtig ins Auge fassen kann, legt der erste auch schon einen recorte hin. Und der zweite, und der dritte. Alles geht unheimlich schnell. Der Stier galloppiert wütend von einer Seite der Arena zur anderen, hämmert seine Hörner in die Bande, die Jungs rennen und retten sich mit gewagten Sprüngen. Der vierte Teilnehmer setzt zum recorte an, doch der Stier ist zu weit herausgelaufen und nimmt nicht genug Anlauf. Im letzten Moment dreht er den Kopf zur Seite und der recortador entkommt nur knapp den Hörnern. Ein Stöhnen geht durch die Arena. 

Nun tritt El Parri heraus. Ganz ruhig steht er in der Arena und sieht den Stier an. Die Menge wird ruhig, seine Konzentration ist ansteckend. Der Stier schnaubt, kratzt mit der Vorderhufe im Sand, senkt den Kopf, nimmt Anlauf... und El Parri macht einen souveränen recorte. Die Zuschauer brechen in extatischen Jubel aus. 

Der dritte Stier ist genauso gross wie der zweite, jedoch weniger schnell. Diesmal ist Iván dran. Er versucht einen Sprung, der Stier dreht sich jedoch zu schnell und Iván flüchtet Kopf voran über die Bande. Dem zweiten recortador geht es genauso. Doch dann versucht er es noch einmal. Er tritt in die Mitte der Arena, schreit ein paar Mal “Hey!” und winkt mit den Armen. Der Stier hat ihn gesehen. Er fängt an zu laufen, wird schneller. Der junge Mann dreht sich flink seitwärts und macht ein Hohlkreuz, lässt den Stier an sich vorbeilaufen, doch dann verliert er das Gleichgewicht und fällt. Ein Schrei geht durch die Arena. Der Stier hat sich sofort umgedreht und seine Hörner in den zur Kugel gerollten Mann am Boden gegraben. Im gleichen Moment stürmen ein Dutzend Wettkämpfer in die Arena und laufen auf den Stier los, wedeln mit roten Tüchern, schreien. Der Stier wendet sich von dem Mann am Boden ab und drei recortadores tragen ihren Kameraden im Laufschritt aus der Arena. Hinten auf seiner weissen Trainingshose wird ein roter Fleck sichtbar. Sobald der Verletzte in Sicherheit gebracht ist, laufen die anderen vier recortadores aus seiner Gruppe wieder zurück in die Arena und fahren mit dem Wettbewerb fort. Iván gelingt noch ein wunderschöner Engelssprung. 

Die Finalisten werden ausgerufen, Iván ist nicht dabei, dafür El Parri und Jorge Cervera. Der letzte Stier, traditionell der beste, wird in die Arena gelassen. Er sieht beeindruckend aus, gross und muskulös doch trotzdem agil. Das Fell am Rücken schimmert rötlich. Bei den Finalisten geht es jetzt um Eindruck, die Tricks werden immer zirkusreifer. Einer bindet sich lose ein Band um die Knie und reisst es wieder ab als er mit gespreizten Beinen über den Stier springt, ein anderer macht auf der Bande sitzend einen quiebro. El Parri bereitet einen recorte vor, das Publikum hält wieder den Atem an. Keiner sieht genau was schief läuft, doch plötzlich fliegt El Parri in hohem Bogen durch die Luft. Er landet hart auf dem Boden und sofort ist der Stier über ihm und versucht, seine Hörner irgendwo reinzugraben. Schon wieder sind innerhalb eines Bruchteils einer Sekunden alle anderen recortadores in der Arena, lenken den Stier ab und tragen El Parri heraus. Danach ist Stille in der Arena, alle strecken ihre Hälse in Richtung der Tür in der Bande, aus der El Parri herausgetragen wurde. “Was ist passiert? Wurde er verletzt?” Doch da tritt El Parri plötzlich wieder in die Arena, scheinbar unversehrt, und legt zu tobendem Applaus einen tadellosen recorte hin, der ihn zum Sieger dieses Wettkampfs machen wird. 

Vier Jahre sind seit diesem Tag in Brihuega vergangen. Iván bestreitet immer noch Wettkämpfe, er ist jetzt 26. Letztes Jahr hat er nur einmal den ersten Platz gewonnen, aber das wird ihm selbst gar nicht so wichtig sein.