"Es war wie das Ende der Welt in Echtzeit"

Tausende Russinnen und Russen haben seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine Russland verlassen. Unter ihnen ist Jekaterina Schulmann, die Politikwissenschaftlerin und außerordentliche Professorin an der Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. In Russland ist Schulmann eine bekannte Wissenschaftlerin. Ihrem YouTube-Channel, auf dem sie zu aktuellen politischen Ereignissen in Russland Stellung bezieht, folgt eine knappe Million Menschen. Wir treffen sie in ihrem neuen Büro bei der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin. Dort ist seit wenigen Wochen Richard von Weizsäcker Fellow. Mitte April hat sie zusammen mit ihrem Mann und ihren drei kleinen Kindern Russland verlassen. Die russische Regierung stuft sie als ausländische Agentin ein.

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ZEIT ONLINE: Frau Schulmann, zwei Tage nach Ihrer Ankunft in Berlin wurden Sie von der russischen Regierung zur ausländischen Agentin erklärt. Haben Sie das kommen sehen? 

Jekaterina Schulmann: Es war keine große Überraschung, aber es hat keine Vorwarnungen gegeben.

ZEIT ONLINE: Aber Sie haben sich von Anfang an offen gegen den Krieg ausgesprochen.

Schulmann: Das kommt darauf an, was Sie unter offener Ablehnung verstehen. Ich habe geschrieben, dass er eine schreckliche, historische Tragödie ist. Dass wir einen Katastrophentunnel betreten. In meiner Radiosendung bei Echo Moskau habe ich aber von einer "militärischen Spezialoperation" gesprochen, um weiter Radio machen zu können. Das war allerdings ziemlich vergeblich, denn der Radiosender wurde abgeschaltet – während meiner Sendung. Wir gingen am Dienstag, dem 1. März, um 21 Uhr auf Sendung und während wir im Studio saßen, gingen die Lichter an den Geräten nacheinander aus und die Tontechniker sagten: Moskau hört uns nicht, Samara hört uns nicht, Kasan hört uns nicht. Es war wie das Ende der Welt in Echtzeit. 

ZEIT ONLINE: Sie haben es also vermieden, den Krieg einen Krieg zu nennen, weil sie Repressionen vonseiten der Regierung fürchteten? 

Schulmann: Ich wollte dem Radiosender keinen Ärger machen. Und ich hoffte, meine Sendung weiterführen zu können. Aber nach dem 24. Februar war offensichtlich, dass unser altes Leben vorbei war. Ich war nicht sicher, ob ich das Land verlassen oder bleiben sollte, ob ich weiter öffentlich auftreten sollte oder nicht. Aber es war völlig klar, dass die Dinge nicht mehr so weitergehen würden wie bisher. Ich blieb in den sozialen Netzwerken aktiv und machte meine wöchentliche Radiosendung, bis der Sender geschlossen wurde. 

Seitdem läuft die Sendung auf YouTube. Mein Co-Moderator Maxim Kurnikow hat das Land fast sofort verlassen. Jetzt sind wir beide in Berlin. Die meisten der Mitarbeiter von Echo Moskau sind schon viel früher ausgereist als ich. Der Chefredakteur Alexej Wenediktow ist noch in Russland, der letzte Samurai sozusagen. Sie haben ihm einen Schweinekopf vor die Tür geworfen. Einen abgeschnittenen Schweinekopf mit Perücke, die offenbar seine Frisur darstellen sollte. 

ZEIT ONLINE: Ist Ihnen Ähnliches passiert? 

Schulmann: Das Erste, was man eine repressive Maßnahme nennen könnte, obwohl es fast lächerlich klingt, war, dass das russische soziale Netzwerk VKontakte meine Fangruppe sperrte. Was danach kam, war schon ernster. Ich arbeite seit Jahren als Dozentin an der privaten Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Letzten Herbst, also vor dem Krieg, wurde ein Strafverfahren gegen die frühere stellvertretende Bildungsministerin Marina Rakowa eingeleitet.

Im Oktober wurde der Rektor der Hochschule angeklagt und in Untersuchungshaft gesteckt. Im März dann schickte die Abteilung für Wirtschaftskriminalität der Moskauer Polizei einen Brief an die Hochschule, in dem sie detaillierte Informationen über eine Reihe von Professorinnen und Lehrern anforderte – auch über mich. Zu jenem Zeitpunkt waren viele Menschen, die auf dieser Liste standen, nicht mehr im Land, aber ich war noch da. Ein paar Tage später wurden Details zu den Ermittlungen im Kommersant veröffentlicht, einer der führenden Wirtschaftszeitungen Russlands.

ZEIT ONLINE: Zu dem Zeitpunkt wussten Sie schon, dass Sie nach Berlin reisen würden, um bei der Robert Bosch Academy zu arbeiten. Beschleunigte der Artikel im Kommersant Ihre Abreise? 

Schulmann: Ja, weil es bedeutete, dass sie mich jederzeit kriegen könnten. Zuerst bitten sie um ein Gespräch. Dann ist man plötzlich Zeugin in dem Fall. Und dann ändert sich der Stand des Verfahrens und man ist keine Zeugin mehr. Das ist sehr vielen passiert. Ich war nicht begeistert von der Idee, das Land zu verlassen. Ohne diese Drohung hätte ich versucht, mich diskret zu verhalten und ein bisschen leiser zu sein, um in Russland bleiben zu können. Es ist schwer, einen Haushalt mit drei kleinen Kindern durcheinanderzubringen und die Verbindungen zu Familie und dem Freundeskreis zu kappen, ohne zu wissen, für wie lange. 

ZEIT ONLINE: Es gab also schon Ermittlungen gegen Sie. Macht es da noch einen Unterschied, dass Sie zur ausländischen Agentin erklärt wurden? 

Schulmann: Mein Status als ausländische Agentin verhindert eine Rückkehr nach Moskau, denn er macht es unmöglich, am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilzuhaben. Wenn man zur ausländischen Agentin erklärt wird, muss man jede Veröffentlichung entsprechend kennzeichnen, auch wissenschaftliche Texte und alles auf Social Media. Man wird nicht mehr zu Vorträgen, Konferenzen oder Veranstaltungen eingeladen und es wird auch keine Vorlesungen mehr geben. Und man muss dem Justizministerium alle Einnahmen und Ausgaben viermal pro Quartal melden – was ich im Übrigen tun werde, allein um die Regeln zu befolgen.

"Wir stehen noch am Anfang dieser militärisch-politischen Krise"

ZEIT ONLINE: Wie ergeht es den Menschen in Russland, die gegen Regierung und Krieg sind, das Land aber nicht verlassen?

Schulmann: Man ist fast ein bisschen neidisch auf die Menschen, auch wenn das pervers klingt, die zu Hause bleiben können und gleichzeitig mutig genug sind, etwas zu sagen. Natürlich haben die vielen Auswanderer die Situation zu Hause verschlechtert. Es gibt weniger Stimmen, sie sind weniger präsent. Selbst wenn man nichts sagt, aber dort ist, hilft das schon. Eine Freundin in Sankt Petersburg sagte mir kürzlich: "Du bist unglücklich und ich habe Angst." Das ist der Unterschied zwischen Gehen und Bleiben. 

ZEIT ONLINE: Die Repressionen scheinen zu wirken. Zu Beginn des Krieges gab es Proteste, jetzt nicht mehr. Gibt es noch eine Bewegung gegen den Krieg?

Schulmann: Wenn Sie damit größere Organisationen oder Nichtregierungsorganisationen meinen, dann nicht. Seit den Repressionen gegen Alexej Nawalny und sein Netzwerk gibt es in Russland keine organisierte Opposition mehr. Mit Vorbehalt könnte man die Jabloko-Partei nennen, weil sie gegen den Krieg ist. Und es gibt ein paar spontan agierende Organisationen, vor allem online, die Menschen informieren und ihnen zeigen, wie man relativ risikoarm protestieren kann, zum Beispiel die feministischen Kriegsgegnerinnen. Es gibt noch mehr, die aber keine öffentliche Aufmerksamkeit wollen oder einfach nur Chats auf Telegram oder Signal sind. 

ZEIT ONLINE: Welchen Effekt haben diese Gruppen? 

Schulmann: Sie verbinden die Leute. Sie verbreiten Informationen. Sie veröffentlichen Anleitungen, zum Beispiel wie man mit seinen Eltern sprechen kann, wenn diese den Krieg unterstützen. Es ist schwer, diese Aktivitäten systematisch zu verfolgen, denn sie wollen unerkannt bleiben. Deshalb haben wir den Eindruck, die Repressionen seien so effektiv gewesen und es gebe keine Aktionen gegen den Krieg – dabei zeigt allein die Zahl der Menschen, gegen die Bußgelder verhängt werden oder gegen die ermittelt wird, dass es jeden Tag irgendwo in Russland irgendeine Art von Protest gibt. Jemand macht eine Ein-Personen-Demo, Graffiti tauchen auf oder grüne Schleifen an öffentlichen Orten. Manches davon ist sichtbar, manches geschieht im Nebel der sozialen Netzwerke.

ZEIT ONLINE: Wie ist die Stimmung in der allgemeinen Bevölkerung?  

Schulmann: Wenn wir nach soziologischen Daten gehen, dann gab es im April weniger Begeisterung als im März. Im März gab es eine Welle der Unterstützung für den Präsidenten, den Krieg und andere politische Figuren wie den Verteidigungsminister oder den Außenminister. Im April ebbte diese leicht ab. Den Umfragen von Lewada zufolge sagten zum Beispiel 44 Prozent der Befragten im März, dass sie dem Präsidenten vertrauten. Im April waren es noch 40 Prozent. Man kann beobachten, dass Sorge sich breit macht, Angst vor der Zukunft, Pessimismus angesichts der wirtschaftlichen Situation. Wenn wir uns Umfragen ansehen, in denen keine direkten politischen Fragen gestellt werden und die Befragten wissen, dass sie bei einer falschen Antwort für 15 Jahren ins Straflager kommen können, dann ist Sorge das vorherrschende Gefühl. 

ZEIT ONLINE: Lesen Sie das auch als einen Stimmungswandel in Bezug auf den Krieg?

Schulmann: Nein, noch nicht. Aber das ist ein ganz natürlicher Prozess. Wir stehen ja noch ganz am Anfang dieser militärisch-politischen Krise. Die Unterstützung für die Annexion der Krim hielt drei Jahre an, von 2014 bis 2016. Im Jahr 2017 begann sie zu sinken und 2018 fiel sie in sich zusammen, nach den Präsidentschaftswahlen und der Reform des Renteneintrittsalters. Aber sogar 2014, auf dem Höhepunkt der Begeisterung, war die Unterstützung viel einheitlicher als heute. Sie vereinte alle Altersgruppen und sozialen Schichten und hob alle Unterschiede zwischen den Regionen auf. Es war ein soziologisches Wunder. 

ZEIT ONLINE: All diese Menschen glaubten, die Krim gehöre zu Russland?

Schulmann: Ja, das war nationaler Konsens. Heute ist das anders. Es gibt große Unterschiede, vor allem beim Alter. Je älter jemand ist, desto enthusiastischer steht er der "militärischen Spezialoperation" gegenüber. Männer unterstützen sie mehr als Frauen und wohlhabende Menschen mehr als ärmere. 

ZEIT ONLINE: Warum? 

Schulmann: Sie erwarten weniger negative persönliche Folgen der Sanktionen. Sie nehmen an, dass sie das schon durchstehen werden. Wir reden hier nicht von den Reichen, sondern von der Mittelschicht. Die Mittelschicht besteht in Russland vorwiegend aus Beamten, aus Menschen, die für die Regierung, staatliche Unternehmen und Banken arbeiten, und aus Menschen im Militär und den Geheimdiensten. Diese Leute sind sich sicher, dass ihre Gehälter weiter bezahlt werden, komme was wolle. Sie glauben nicht, dass sie ihre Jobs verlieren werden. Das Einzige, was sie fürchten, sind Inflation und das Verschwinden bestimmter Güter und Dienstleistungen. Und sie hoffen, sich daran irgendwie zu gewöhnen.

"Das Regime versucht den Schein der Normalität zu wahren"

ZEIT ONLINE: Es gab bereits viele russische Opfer in diesem Krieg. Hat die russische Bevölkerung das mitbekommen? 

Schulmann: Die Situation ist eine andere als in den späten Neunziger- und frühen Nullerjahren, als Russland in Tschetschenien hohe Verluste erlitt. Und sie ist sogar anders als in Afghanistan, wo Russland auch Verluste erlitt. Damals dienten Menschen aus allen sozialen Schichten und Regionen in der Armee. Natürlich hatten die Moskauer und die privilegierten Schichten mehr Möglichkeiten, ihre Söhne vom Wehrdienst zu befreien. Aber dennoch war es eine allgemeine Pflicht. Als die Särge zurück ins Land kamen, haben das sehr viele mitbekommen.

Das ist heute anders. Die Armee ist seit vielen Jahren ein Versprechen auf sozialen Aufstieg für diejenigen, die keine anderen Ressourcen haben. Sprich: Es sind die Kinder armer Leute, die in der Armee dienen. Dabei gibt es regionale Unterschiede: Unter den Opfern sind besonders viele Soldaten aus den autonomen Republiken und den ärmeren Regionen Russlands. Wir wissen von vergleichsweise wenigen Opfern aus Moskau und Sankt Petersburg, sie kommen eher aus Dagestan, Burjatien und Tuwa. Diese Diskrepanz hat dazu geführt, dass so etwas wie die Soldatenmütter in den Neunzigern bisher nicht gibt. Die Familien dieser Leute sind sehr arm. 

ZEIT ONLINE: Putin hat den Familien gefallener Soldaten eine Entschädigung versprochen. 

Schulmann: Ja, und die Familien schweigen oft, um diese Entschädigungszahlungen auch zu erhalten. Manchmal werden sie gedrängt, Geheimhaltungserklärungen zu unterzeichnen, unter Androhung von Strafverfolgung, oder ihr Geld nicht zu bekommen. Und selbst wenn die Zahl der Opfer weiter steigt, wird das die soziale Struktur der Betroffenen nicht verändern. Die würde sich nur ändern, wenn es eine größere Mobilisierung gäbe. Ob das passiert, werden wir erst am 9. Mai wissen. 

ZEIT ONLINE: Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat bestritten, dass eine Generalmobilisierung geplant ist.

Schulmann: Ich habe keine Insiderinformationen, aber ich bezweifle stark, dass die Regierung diesen Schritt gehen wird. Das Regime versucht, den Schein der Normalität zu wahren: Wir kommen zurecht, alles ist in Ordnung, Sie sind in Sicherheit. Eine Mobilisierung würde dieses Bild zerstören. Zunächst würde damit deutlich, dass es sich um einen Krieg handelt und nicht um eine "militärische Sonderoperation". Und dann, dass dieser Krieg schlecht läuft. Das würde die Begeisterung für diese ganze Angelegenheit auf eine harte Probe stellen. Der 9. Mai ist eigentlich kein Tag, um einen Krieg zu erklären, sondern um einen Krieg zu beenden. Es ist ein Tag, um den Sieg auszurufen. 

ZEIT ONLINE: Glauben Sie, das wird passieren? 

Schulmann: Es würde sehr gut in den Kalender passen. Alles begann gleich nach dem Tag des Verteidigers des Vaterlandes am 23. Februar und fast genau an dem Datum, als die Krim-Operation 2014 losging. Und es dann am 9. Mai enden zu lassen, am Tag des Sieges, mit irgendeinem Triumph – möglicherweise mit der Erklärung, dass dieses oder jenes Gebiet jetzt eine unabhängige Republik oder Teil Russlands ist – das würde sehr mit meiner Einschätzung des russischen politischen Systems harmonisieren. Allerdings beobachte ich das System der Entscheidungsfindung seit 1999 und habe bis in die letzten Februartage hinein trotzdem nicht glauben können, dass eine Invasion der Ukraine stattfinden würde. Mein Urteil muss also hinterfragt werden. 

ZEIT ONLINE: Warum haben Sie sich geirrt?

Schulmann: Das fragen wir Russland-Beobachter uns seit Februar auch. Es ist viel zu früh für endgültige Antworten, aber ich habe eine Hypothese. Was zu dieser fatalen Entscheidung beigetragen haben kann – und ein blinder Fleck für uns war –, sind die Veränderungen der Jahre 2020 und 2021. Wir haben unterschätzt, zu welchem Grad sich die Spitze der Entscheidungspyramide während der Pandemie vom Rest gelöst hat.

"Der Krieg ist eine Form ultimativer Realität"

ZEIT ONLINE: Manche Beobachter sagen, Wladimir Putin, die losgelöste Spitze der Pyramide, werde nicht korrekt über den Stand des Krieges und den Zustand im Land informiert. Wie gefährlich ist das? 

Schulmann: Wissen Sie, was gefährlich ist? Die Konzentration von Macht in den Händen einer Person. Das ist gefährlich. Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht, ob die Person an der Spitze gut oder falsch informiert ist. Das Fehlen wechselseitiger Kontrolle und gesellschaftlicher Kontrolle über die Regierung allgemein, das faktische Machtmonopol, die Monopolisierung der Öffentlichkeit – all das ist viel wichtiger. 

ZEIT ONLINE: Hat der Krieg diese Machtkonzentration noch verstärkt?  

Schulmann: Ja, aber gleichzeitig ist Krieg eine Form ultimativer Realität. Man kann ihn eine Weile unter den Teppich kehren und im Staatsfernsehen Siege verkünden. Doch es gibt harte Realitäten, die irgendwann zum Vorschein kommen und nicht zerredet werden können. In Friedenszeiten konnte Russland Fehler mit Geld vertuschen. Der russische Staat ist schon lange sehr reich. Wann immer etwas schiefging, hat man Geld aufgebracht und dann wurde es schon wieder richtig. Und was nicht richtig wurde, wurde einfach ignoriert und verschwand irgendwann. So hat das System funktioniert. Aber in einem Krieg oder einer "militärischen Spezialoperation" klappt das nicht so gut.

ZEIT ONLINE: Könnte es Putins Regime destabilisieren, wenn die wirtschaftlichen Kosten des Krieges – durch Sanktionen zum Beispiel – die Regierung daran hindern, diese Strategie anzuwenden? 

Schulmann: Ich glaube nicht, dass das derzeit der Fall ist. Die Reserven sind groß und es kommt noch viel Geld für Öl und Gas und für Getreide nach Russland. Ich bin nicht in der Lage, die mittel- oder langfristigen Folgen der Sanktionen kompetent zu beurteilen – ob dem Land zum Ende des Jahres das Geld ausgeht. Sollte das geschehen, wäre es eine komplett neue Situation. Seit dem Ende der Neunziger haben die Menschen in Russland vergessen, wie sich das anfühlt. Die Regierung hatte immer viel Geld. 

ZEIT ONLINE: Es gibt Menschen, die sagen, die Sanktionen seien eine kollektive Bestrafung der Russen. Sehen Sie das auch so? 

Schulmann: Soweit ich das verstehe, war es nie das Ziel der Sanktionen, die Russen zum Protest zu bewegen, weil Uniqlo und McDonald’s weg sind. Falls es einen Zweck gibt, ist es der, die Menschen spüren zu lassen, dass die Lage nicht normal ist. Die russische Regierung unternimmt viel, um sicherzugehen, dass der Schrecken der Achtziger nicht wiederkommt: leere Supermarktregale. 

ZEIT ONLINE: Ist sie erfolgreich damit? 

Schulmann: Ja. Die Preise sind zwar gestiegen, aber es gibt keinen sichtbaren Mangel an Gütern oder Dienstleistungen, außer natürlich von den Unternehmen, die Russland verlassen haben. 

ZEIT ONLINE: Gibt es irgendetwas, das Ihnen Hoffnung für Russland macht?

Schulmann: Als Politikwissenschaftlerin ist es nicht meine Aufgabe, hoffnungsvoll oder niedergeschlagen zu sein, sondern zu beobachten und zu analysieren, was geschieht. Aber wenn wir das Gespräch mit etwas beenden wollen, das Hoffnung ähnelt, dann liegt diese in der russischen Gesellschaft. Nicht in einer russischen Gesellschaft, die sich auflehnt und das Regime aus dem Amt jagt. Sondern in einer Gesellschaft, die gebildet und urban ist und mit der wir die letzten 20 Jahre zusammengearbeitet haben.

Es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass das Bild der nationalen Einigkeit unter dem Buchstaben Z eine wahrheitsgemäße Darstellung der russischen Gesellschaft ist. Viele Menschen sind gegangen, aber viele sind auch noch im Land und machen heldenhaft ihre Arbeit. Es geht nicht nur um Protest, es geht darum, Kindern Bildung zu vermitteln und dass Schüler Musik spielen und Essays schreiben. Manchmal wünschte ich, ich hätte Teil davon sein können.