Der irische Journalist Fintan O'Toole ist einer der schärfsten Analysten (und Kritiker) des Werdegangs und Charakters von Boris Johnson. Doch nach dessen Rücktritt warnt er davor, den scheidenden britischen Premier selbst als das Problem zu betrachten. Vielmehr sei er Ausdruck eines schwachen politischen Systems, das dringend reformiert werden müsse. Großbritannien, sagt O'Toole, stehen schwere Turbulenzen bevor.
ZEIT ONLINE: Mr. O'Toole, Sie schreiben schon seit Jahren über Boris Johnson. Als er sich vergangene Woche bis zuletzt noch stur weigerte zurückzutreten, obwohl seine Zeit ganz offensichtlich um war – hat Sie das überrascht?
Fintan O'Toole: Nein, das hat es nicht. Johnson hat sich sein Leben lang immer wieder selbst in schlimme Situationen gebracht und entkam jedes Mal ohne jegliche Folgen. Daraus hat er gelernt, dass er sich alles erlauben kann und nichts seine Ambitionen behindern würde.
ZEIT ONLINE: Waren Sie erleichtert, als er dann doch seinen Rücktritt ankündigte?
O'Toole: Ja. Ich bin zwar nicht sehr optimistisch, dass sich die Lage in Großbritannien oder die Beziehungen der britischen Regierung zu Irland oder Europa schnell verbessern werden. Aber unter Johnson wäre es definitiv schlimmer geworden. Sein Rücktritt war also die Voraussetzung für jegliche Hoffnung auf kompetente Regierungsarbeit. Man vergisst ja leicht, dass Johnson nicht nur in vielerlei Hinsicht ein unausstehlicher Mensch ist, sondern auch ein extrem inkompetenter Politiker. Er hatte eine Mehrheit von 80 Sitzen im Parlament, gefällige Medien und ein unterwürfiges Kabinett, und trotzdem konnte er sich nicht im Amt halten. Komplexe Probleme lassen sich schwerlich lösen mit einem Premierminister, der einfach nicht gut Politik machen kann.
ZEIT ONLINE: Johnson war keine drei Jahre im Amt. Wie wird seine Regierung in die Geschichte eingehen?
O'Toole: Einerseits war er eine frivole Figur, die nichts ernst nahm. Er war nur sehr kurze Zeit an der Macht und mit seinem Rücktritt ist seine politische Karriere beendet. Andererseits hat seine Amtszeit außerordentlich weitreichende Folgen für Großbritannien und den Platz des Landes in der Welt. Das Schlimmste ist, dass Boris Johnson nichts aus Überzeugung tat. Es gab schon immer Menschen, die besessen waren von der Idee, Großbritannien müsse raus aus der EU. Aber sie hatten wenigstens ernsthafte Beweggründe. Sie glaubten an etwas. Johnson wollte einfach nur an die Macht, ohne einen Plan zu haben, was er mit der Macht anfangen wollte. Die historische Zäsur durch den Brexit wurde verkörpert von einem Mann, der dem Projekt nicht mehr Substanz geben konnte oder wollte als diese lächerliche Rhetorik über Global Britain und ein neues goldenes Zeitalter.
ZEIT ONLINE: Hätten die Briten ohne Boris Johnson nicht für den Brexit gestimmt?
O'Toole: Ich glaube nicht. Wenn Johnson an jenem Morgen vor seine Haustür getreten wäre und gesagt hätte: Die Zukunft von Großbritannien liegt in der EU, wir sind Europäer – dann hätte das die fünf bis sieben Prozent der Stimmen ausgemacht, die das Schicksal des Landes verändert hätten. Ich kenne Leute, die in jener Nacht bei ihm waren. Und die erzählen, wie er stündlich seine Meinung änderte. Er hätte vielleicht einfach nur zu einer anderen Uhrzeit mit den Medien sprechen müssen. Aber auch psychologisch war sein Beitrag riesig.
ZEIT ONLINE: Warum?
O'Toole: Weil Johnson die Idee verkörperte, dass nichts Konsequenzen hat und man mit allem ungestraft davonkommen kann. Und das war doch das Versprechen des Brexits: Du kannst den Lauf der Geschichte ändern, fast eine Revolution anzetteln – und trotzdem wird alles genau so bleiben wie zuvor. Nur Johnson konnte dieses Versprechen machen. Es ergibt also einen gewissen Sinn, dass Johnson genau jetzt verschwindet, wo die Folgen des Brexits für die Briten sichtbar werden.
"Großbritannien ist sehr fragil"
ZEIT ONLINE: Boris Johnson wollte auch das Nordirland-Protokoll wieder aufheben, das er selbst im Zuge des Brexits verhandelt hatte und das die EU-Außengrenze in die Irische See zwischen Schottland und Nordirland verlegt, um eine harte Landgrenze zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden. Es klingt sehr technisch, hat aber große emotionale Wirkung. Was hinterlässt Johnson auf der irischen Insel?
O'Toole: Dank Johnson fühlt sich die protestantische Gemeinschaft in Nordirland verraten, verwirrt und ist ihrer Zukunft ungewiss. Wäre ich ein Protestant in Nordirland und sähe mich selbst als Brite, dann hätte ich jetzt auch eine schwere Identitätskrise. Bin ich noch Teil des Vereinigten Königreichs oder nicht? Die Regierung Irlands wiederum hat das Problem, dass der Brexit nur zwei mögliche Lösungen hatte: entweder eine Grenze in der Irischen See oder eine Grenze auf der Insel Irland. Der Rest war Wunschdenken. Wird die EU jetzt also eine harte Grenze auf der irischen Insel verlangen? Johnsons Vermächtnis ist, dass er an dem Ort in Europa, der das am wenigsten gebrauchen kann, alles durcheinandergebracht hat. Nordirland braucht ganz sicher nicht noch mehr Zweifel, Angst und Unsicherheit. Es hatte schon genug davon, und die Folgen kennen wir alle.
ZEIT ONLINE: Boris Johnson ist sehr oft mit Donald Trump verglichen worden. Glauben Sie, Johnson wird sein Land und seine Partei genauso nachhaltig verändern wie Trump?
O'Toole: Großbritannien und die Vereinigten Staaten sind in gewisser Weise Beta-Versionen der modernen Demokratie. Zur Zeit ihrer Gründung im 18. Jahrhundert waren sie unglaublich progressiv. Aber genau weil sie ihrer Zeit voraus waren, sind es auch unreformierte Demokratien, die sich nie mit den riesigen Problemen ihrer Verfassungen beschäftigt haben. Sowohl Johnson als auch Trump waren eine Art Stresstest für diese Systeme – und beide Systeme haben spektakulär versagt.
Trump wurde zwar abgewählt, aber der Trumpismus ist im Supreme Court zementiert. Die Folgen werden uns ungefähr genauso lange begleiten wie die des Brexits, nämlich 20 bis 40 Jahre. In den USA wurde durch Trump die nicht repräsentative Natur des Senats deutlich, in Großbritannien durch Johnson die übermäßige Zentralisierung des Staates, die ungelösten Spannungen zwischen England und Schottland, Wales und Nordirland. Außerdem die Probleme mit dem Mehrheitswahlrecht, das Parteien riesige Mehrheiten im Parlament gibt, die sie in der Bevölkerung nicht haben. Beide politischen Systeme befinden sich jetzt in einer gefährlichen Situation: Die Menschen haben gesehen, wie schwach sie sind und wie einfach man in ihnen zu Macht kommen kann. Und es ist noch nicht genug geschehen, um sie zu reparieren.
ZEIT ONLINE: Das Problem war also nicht Boris Johnson?
O'Toole: Nein. Das Problem war, dass jemand wie Johnson so leicht an die Macht kommen und so lange mit seinem außerordentlichen Verhalten und seinen Lügen davonkommen konnte. Unsere politischen Systeme basieren auf der Idee, dass es denen an der Macht obliegt, zumindest annähernd die Wahrheit zu sagen. Nimmt man das weg, bleiben sehr fragile Demokratien zurück. Und ich glaube, Großbritannien ist sehr fragil.
ZEIT ONLINE: Wie steht es um die Torys, die Johnson so lange gewähren ließen, bis er ihre Macht und Parlamentsmehrheit in Gefahr brachte?
O'Toole: Die Torys stecken in einer tiefen existenziellen Krise. Der offizielle Name der Partei ist ja Conservative and Unionist Party. Aber sind sie noch konservativ und der Union verpflichtet? In den Siebzigerjahren überwand die Partei eine Identitätskrise mithilfe von Margaret Thatcher. Sie hat den Konservatismus der Partei neu erfunden – als neoliberale Wirtschaftslehre plus einer neuen Definition von britischer Größe, die das Empire hinter sich ließ, Großbritannien aber trotzdem als außergewöhnlich darstellte und eine neue Form von Patriotismus zuließ. All das ist jetzt weg. Der Neoliberalismus funktioniert nicht mehr. Den Staat zu schrumpfen, ist keine Lösung.
ZEIT ONLINE: Und trotzdem werben alle Anwärter und Anwärterinnen auf den Parteivorsitz mit Steuersenkungen.
O'Toole: Boris Johnson war eine schlechte Parodie von Winston Churchill, seine Nachfolger versuchen, schlechte Parodien von Margaret Thatcher zu werden.
"Je mehr Kummer er ihnen macht, desto besser"
ZEIT ONLINE: Bräuchten die Torys eine echte neue Thatcher?
O'Toole: Ich verachte Thatcher zwar, aber sie war eine ernsthafte und kluge Politikerin. Sie gab Großbritannien ein sehr realistisches Gefühl für seinen Platz in der Welt. Sie verstand, dass das Land der EU beitreten musste, aber sie balancierte das mit Hyperpatriotismus aus: wehende Flaggen, der Krieg um die Falklandinseln – um zu verschleiern, dass Großbritannien ein ganz normales westeuropäisches Land wurde. Dieser Pragmatismus ist weg. Die Briten haben keine Ahnung mehr, wo ihr Platz in der Welt ist. Und es gibt keinen britischen Konservatismus mehr, nur noch englischen Nationalismus.
ZEIT ONLINE: Auch die Labourpartei scheint nicht genau zu wissen, wofür sie eigentlich steht.
O'Toole: Labour muss drei große Probleme lösen. Das erste ist die Wirtschaftspolitik. Großbritannien leidet an niedrigem Wachstum, niedriger Produktivität und großen Einkommensunterschieden. Labour muss eine überzeugende Erzählung liefern, wie sich das ändern soll. Unter dem Parteivorsitz von Keir Starmer ist das bisher nicht geschehen. Zweitens müssen sie sich mit der britischen Identität befassen. Starmer hat sich bisher einfach in die Union-Jack-Flagge gewickelt und versucht, britischer zu sein als die Torys. Soll die Union gerettet werden, muss sie ein föderalistischer Staat werden. Der einzige Weg, das Vereinigte Königreich zu erhalten, ist eine radikale Verfassungsänderung, die Schottland, Wales und Nordirland enorme Autonomie gibt. Aber Starmer riskiert das nicht. Und Labours dritte Herausforderung ist ein Konzept für den Brexit. Bisher weigern sie sich, darüber zu sprechen.
ZEIT ONLINE: Umfragen zufolge denkt inzwischen eine Mehrheit der Britinnen und Briten, dass der Brexit schlecht abgewickelt wurde. Warum schlägt Starmer trotzdem nicht vor, wenigstens den Zugang zum europäischen Markt neu zu verhandeln?
O'Toole: Fokusgruppen zeigen, dass die Menschen sehr empfindlich darauf reagieren, wenn man ihnen sagt, dass sie angelogen wurden. Sie fühlen sich dann wie die Opfer eines Betrugs und werden wütend oder schämen sich. Das ist besonders ausgeprägt in der Arbeitendenklasse. Deshalb muss Starmer eine Rhetorik finden, die anerkennt, dass die Menschen angelogen wurden, ohne dass sie sich deshalb schlecht fühlen. Starmer sollte ganz spezifisch auf die Misere einzelner Gruppen eingehen, der Fischer, Landwirte, Kleinunternehmerinnen. Aber Labour muss sich beeilen: Man kann die anderen großen Probleme nicht lösen, ohne sich mit dem Brexit zu befassen.
ZEIT ONLINE: In der Times schrieb ein Kolumnist nach Johnsons Rücktritt: "Endlich können wir wieder ein ernsthaftes Land werden." Glauben Sie, die Briten wollen ernsthafte Politiker und Politikerinnen überhaupt? Sie schienen Johnson doch gerade wegen seines Humors zu mögen.
O'Toole: Das ist in gewisser Weise die allerwichtigste kulturelle Frage überhaupt. Mein Gefühl ist, dass die Pandemie die Dinge grundlegend verändert hat. Johnsons Karriere war vorbei, als die Briten aufhörten, über seine Witze zu lachen und sahen, dass er in Wirklichkeit über sie lachte. Bei den Torys hat keiner von denen, die ihn beerben wollen, Johnsons Fähigkeit, alles in Anführungszeichen zu setzen. Es fehlt also am Angebot. Aber auch die Nachfrage ist eingebrochen. Großbritannien steckt in großen, schrecklichen Schwierigkeiten. Natürlich kämpfen gerade alle damit, dass alles teurer wird, aber in Großbritannien ist es noch schlimmer als anderswo. Und die Britinnen und Briten wissen das. Ich glaube, dass dem Land ernste politische Turbulenzen bevorstehen.
ZEIT ONLINE: Sie haben mehrmals gesagt, die politische Karriere von Boris Johnson sei vorbei. Glauben Sie nicht, dass er versuchen könnte, sie wiederzubeleben?
O'Toole: Er hat ganz sicher davon fantasiert. Aber die Macht ist ihm entglitten, weil er ein nutzloser Politiker ist. Ein sehr kluger, sehr böser Politiker hätte sich vielleicht auf eine Art Coup vorbereitet. Nicht Johnson. Nun wird er rachsüchtig sein und Unruhe stiften. Und er wird unheimlich viel Geld verdienen, mit Zeitungskolumnen und im Fernsehen. Er hat ja noch Fans. Ich glaube, dass er jetzt einfach so destruktiv für die Torys sein wird wie Trump für die Republikaner. Johnson wird sie noch lange heimsuchen, und sie haben es verdient. Je mehr Kummer er ihnen macht, desto besser. Denn es erinnert sie daran, dass sie ihn erschaffen haben. Sie sollten leiden dafür, dass sie ihrem Land einen so zerstörerischen, üblen, zynischen Menschen aufgehalst haben.