Sheryl Sandberg, Brené Brown, die Werbespots von Dove, Selbsthilfe-Apps, Führungscoaching – sie alle ermutigen Frauen zu mehr Selbstvertrauen. Was unschuldig daherkommt, ist in Wirklichkeit perfide, sagen Shani Orgad, Professorin für Medien und Kommunikation an der London School of Economics, und Ros Gill, Professorin für kulturelle und soziale Analyse an der London City University.
ZEIT ONLINE: Frau Orgad, Frau Gill, lassen Sie uns über die US-Fernsehserie The Good Wife sprechen. Die Anwältin Alicia Florrick kehrt nach vielen Jahren als Hausfrau und Mutter zurück in die Arbeitswelt und hat es erst mal ziemlich schwer. Doch sie kämpft hart und zeigt es am Ende allen. Ich persönlich habe mich über jeden ihrer Siege gefreut. Sie aber kritisieren die Darstellung von Alicia Florrick. Warum?
Shani Orgad: Florrick verkörpert die Idee, dass beruflicher Erfolg vor allem vom eigenen Selbstvertrauen abhängt. Sie sagt, was sie denkt. Sie verlangt Gehaltserhöhungen. Sie widerspricht Richtern und ihren Chefs. Und immer profitiert sie davon. Je selbstbewusster sie wird, desto größer ihre Belohnung. Doch die strukturellen Aspekte ihres Erfolgs werden nie gezeigt, die Kinderbetreuung zum Beispiel. Ihre Wohnung ist immer blitzblank. Diese selbstbewusste Frau ist auf eine kleine Armee von Helfern angewiesen, aber das wird nicht thematisiert. Ebenso wenig wie ihre toxischen Arbeitsbedingungen. Und obwohl sie rund um die Uhr arbeitet, ist sie eine selbstbewusste Mutter und kuschelt mit ihren Kindern.
ZEIT ONLINE: Selbstbewusst zu sein, ist doch an und für sich nicht schlecht.
Ros Gill: Wir argumentieren überhaupt nicht dagegen, dass Frauen selbstbewusst sind und sich wohlfühlen in ihrer Haut. Das ist sehr wertvoll. Wir kritisieren, dass Selbstbewusstsein heute als Allheilmittel präsentiert wird. Geht es um Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern, heißt es: Frauen müssen selbstbewusster werden, um höhere Löhne zu verhandeln, und sie dürfen sich nicht wie Hochstaplerinnen am Arbeitsplatz fühlen. Geht es um Selbstvertrauen in den eigenen Körper, heißt es, Frauen müssen sich einfach wohler fühlen in ihrer Haut. Dabei müsste man eher das toxische Einfordern von Schönheitsidealen hinterfragen. Wir kritisieren den Ansatz, dass Frauen verantwortlich für Ungleichheit sein sollen. Den Frauen wird die Schuld daran gegeben! Und die Lösung soll sein, dass Frauen an sich arbeiten, dass sie lernen, dankbar zu sein, anders zu atmen, anders zu stehen, anders zu kommunizieren und ihre E-Mails anders zu schreiben. Es geht immer nur darum, dass Frauen sich ändern sollen, statt dass wir versuchen, die Welt gerechter zu machen.
ZEIT ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Buch von einer neoliberalen Kultur des Selbstbewusstseins, in der Frauen leben. Inwiefern merkt man die im Alltag?
Orgad: In so einer Kultur lernen Frauen, dass die Verantwortung für Erfolg und Leistung allein bei ihnen liegt. Hindernisse sind klein und liegen vor allem bei den Frauen selbst. Frauen werden dadurch ermutigt, strukturelle und organisatorische Probleme zu missachten oder ihnen nur wenig Bedeutung beizumessen. Und sie müssen die Lösungen selbst finden, in ihrer Rolle als Angestellte oder Managerinnen. Wenn der Arbeitgeber Frauen unterstützt, dann tut er es oft mit Coaching für mehr Selbstbewusstsein. Frauen werden also ständig angehalten, ihr eigenes Verhalten zu überwachen. E-Mails sind ein gutes Beispiel: Frauen sollen zum Beispiel darauf achten, sich nicht zu entschuldigen oder ihre eigenen Aussagen abzuschwächen. Anstatt sich zu fragen: Warum schreiben Frauen überhaupt so? Es lenkt die Aufmerksamkeit weg von strukturellen Problemen, die in der Verantwortung der Arbeitgeber oder von Regierungen liegen.
"Sheryl Sandberg idealisiert eine Form der Weiblichkeit, die den oberen ein Prozent entspricht, nicht den unteren 99 Prozent."
Shani Orgad, Professorin für Medien und Kommunikation
ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich den Erfolg dieser Denkweise?
Orgad: Die Kultur des Selbstvertrauens ist sehr verführerisch. Es ist sehr leicht, diese Ansichten zu verinnerlichen, denn sie sind überall. Deshalb nennen wir es ja auch eine Kultur: Wir sind umgeben davon. Egal, ob es um unsere Körper geht oder die Kindererziehung, Arbeit oder Partnerschaft – uns wird gesagt, dass wir selbst das Problem sind und wenn wir nur genug Zeit und Geld investieren, um uns selbst zu verbessern, dann können auch wir selbstbewusst werden.
ZEIT ONLINE: Sie nennen es auch einen "Kult" des Selbstvertrauens. Wenn es diesen gibt, dann ist Lean In, das Buch der Facebook-Managerin Sheryl Sandberg, seine Bibel. Das Buch ermutigte Frauen, ehrgeizig zu sein, nach Führungspositionen zu streben, sich im Job durchzusetzen. Und es war wahnsinnig erfolgreich.
Orgad: Einer der Haupteffekte dieses Buchs war, Selbstvertrauen als ein Wundermittel darzustellen, das alle Probleme von Frauen in der Arbeitswelt lösen kann. Natürlich ging es eigentlich um einen sehr exklusiven Kreis von Frauen, nämlich die der weißen, gehobenen Mittelschicht, die in großen Unternehmen arbeiten. Doch das Buch hat auch maßgeblich dazu beigetragen, den Feminismus umzuschreiben. Das ist vor allem in der Einleitung sichtbar, deren Originaltitel "Internalizing the Revolution" ist, also "die Revolution verinnerlichen". Beim Feminismus geht es eigentlich um eine Revolution in der Welt da draußen, um kollektive Mobilisierung, einen Kampf für Gleichberechtigung zwischen Geschlechtern. Es geht um Gleichheit grundsätzlich. Aber Sandbergs Mantra ist, dass es in der Verantwortung von Frauen liegt, die Revolution zu verinnerlichen. Sie hat damit eine Version von Feminismus artikuliert, die inzwischen so beliebt ist, dass sie zur vorherrschenden Form geworden ist: sehr individualistisch, sehr psychologisiert, ohne Interesse an strukturellen Problemen. Und Sandberg idealisiert eine Form der Weiblichkeit, die den oberen ein Prozent entspricht, nicht den unteren 99 Prozent.
ZEIT ONLINE: Aber hat Sandberg dem Feminismus nicht auch einen Gefallen getan, indem sie viele der Geschlechterungleichheiten in der Arbeitswelt erst für die breite Öffentlichkeit sichtbar gemacht hat?
Gill: Stimmt, auch dank Sandberg war Feminismus plötzlich wieder angesagt. Aber es ist eben nicht Feminismus als kollektives Projekt, das die Welt verändern will. Es ist eine individuelle, psychologische Form von Feminismus, sehr neoliberal in seiner Gesinnung. Er ist nicht auf Zerstörung aus: Frauen soll es einfach ein kleines bisschen besser gehen, ohne dass sich groß etwas ändern muss. Frauen sollen also an sich selbst arbeiten, statt rauszugehen und alles kaputt zu schlagen.
ZEIT ONLINE: Was ist das Problem daran?
Gill: Frauen zahlen einen hohen Preis. Die Revolution zu verinnerlichen, bedeutet nämlich, zu akzeptieren, dass Frauen selbst verantwortlich sind für ihre Unterdrückung, für ihre schlechte Stellung in der Gesellschaft. Wir haben uns das selbst zugefügt, weil wir nicht selbstbewusst gewesen sind. Wir haben nicht nach einer Gehaltserhöhung verlangt, deshalb werden wir schlechter bezahlt. Es ist unsere Schuld.
"Wir haben den neoliberalen Diskurs komplett verinnerlicht"
ZEIT ONLINE: Was hat das mit Neoliberalismus zu tun?
Gill: Neoliberalismus zeichnet sich aus durch Deregulierung, Privatbesitz und Unternehmertum. Wir aber betrachten ihn als etwas viel Breiteres, das unseren Alltag und unser Denken durchdringt. Meritokratie zum Beispiel, also die Vorstellung, dass die Gesellschaft eine Leiter ist, die wir hinaufklettern, ist sehr alltäglich geworden. Die neoliberale Gesellschaft besteht aus vielen Leitern und wir alle haben die gleichen Möglichkeiten, daran hochzuklettern. Alles baut auf Eigenverantwortung. Und um ein gutes neoliberales Subjekt zu sein, muss man sich nicht nur auf eine bestimmte Weise verhalten, sondern auch anders fühlen. Man muss sich für sich selbst verantwortlich fühlen und nicht anderen die Schuld geben, wenn etwas nicht gut läuft. Man muss positive Gefühle haben, resilient sein. Das sind neoliberale Gefühle, die man braucht, um gut und erfolgreich zu leben.
ZEIT ONLINE: Und dafür wiederum braucht man Selbstvertrauen?
Gill: Das ist ganz ausschlaggebend, ja.
Orgad: Wir haben den neoliberalen Diskurs komplett verinnerlicht. Sogar auf britischen Arbeitsämtern wird den Leuten inzwischen Coaching für mehr Selbstvertrauen angeboten. Frauen der weißen Mittelschicht sind oftmals die idealisierten Testpersonen, aber letztlich wird Selbstvertrauen als Einheitslösung für alle präsentiert – als könnte es sowohl einer Frau helfen, die gerade ihren Job im Niedriglohnsektor verloren hat, als auch all den Sheryl Sandbergs da draußen. Diese hohle Inklusivität beunruhigt uns sehr.
ZEIT ONLINE: Werden Frauen anders angesprochen als Männer, wenn es um Selbstvertrauen geht?
Gill: Oh ja. Bei Männern geht es vor allem um das Auftreten. Sie werden angehalten, oberflächliche Veränderungen vorzunehmen, für mehr beruflichen Erfolg oder Leistung. Frauen hingegen sollen in sich gehen und psychologisch arbeiten, sich selbst analysieren und ein selbstbewussteres Selbst hervorbringen, durch Atmung, Körperhaltung, eine neue Denkweise, Selbstliebe und positive Beteuerungen. Auch ist Selbstvertrauen für Männer ein Projekt, das einen Anfang hat und ein Ende. Es gibt ein Ziel, zum Beispiel: Männer wollen auf Datingplattformen selbstbewusster auftreten, um mehr Frauen anzusprechen. Sie arbeiten also an ihrem Auftreten, folgen ein paar Tipps, dann sind sie fertig. Für Frauen hingegen ist Selbstvertrauen ein Leben lang Arbeit. Sie müssen es nicht nur erarbeiten, sondern dann auch beibehalten. Es gibt Trainings für jede Lebensphase. Ich habe kürzlich von Coaching für die Wechseljahre gehört, in dem man lernt, die Symptome psychologisch zu deuten: Das ist keine Hitzewallung, sondern ein Energieschub!
"Ich finde es ziemlich verstörend, dass ich jetzt immer öfter Posts auf LinkedIn sehe, in denen Frauen schreiben, sie seien nicht 'bossy'."
Shani Orgad, Professorin für Medien und Kommunikation
ZEIT ONLINE: Kann Selbstbewusstsein Frauen im Arbeitskontext auch schaden, wenn selbstbewusste Frauen zum Beispiel nicht befördert werden, weil ihre Kollegen oder Chefs sie unsympathisch finden?
Orgad: Das wird tatsächlich oft besprochen, auch Sandberg zitiert Studien. Aber anstatt kritisch darüber nachzudenken, warum selbstbewusste Frauen als herrisch oder zickig gelten, während Männer für ihr Selbstbewusstsein belohnt werden, ist die Botschaft: Lass dich nicht unterkriegen! Wenn sie dich herrisch oder zickig nennen: Zeig's ihnen! Frauen sollen über diesen unangenehmen Reaktionen und Kommentaren stehen. Ich finde es auch ziemlich verstörend, dass ich jetzt immer öfter Posts auf LinkedIn sehe, in denen Frauen schreiben, sie seien nicht "bossy", also keine herrischen Chefinnen. Sie räumen das Problem ein und entschuldigen sich fast dafür. Es wird nicht gefragt, wie wir eine sexistische, patriarchalische Kultur verändern können, die es fast natürlich erscheinen lässt, dass eine Frau mit bestimmten Charaktereigenschaften als unangenehm betrachtet wird. Es geht immer nur darum, an sich selbst zu arbeiten, etwas zu überwinden und zu ignorieren.
ZEIT ONLINE: Ein paar Jahre nach Lean In veröffentlichte Sheryl Sandberg ein zweites Buch, Option B, in dem sie sich sehr verletzlich zeigte. Steht das nicht im Gegensatz zu ihrem Argument, dass Frauen selbstbewusster sein sollten?
Orgad: Nicht nur Sandberg, auch die US-amerikanische Selbsthilfe-Guru Brené Brown haben sich in den letzten Jahren dem Thema Verletzlichkeit zugewandt. Das scheint auf den ersten Blick die Figur der selbstbewussten Frau herauszufordern, aber eigentlich bestärkt es sie. Erstens geht es genau wie beim Selbstbewusstsein um eine sehr individuelle magische Lösung für alle Probleme. Dass die Gründe für Verletzlichkeit strukturell sind – Armut, Rassismus, Sexismus –, wird nicht besprochen, ebenso wenig wie strukturelle Lösungen. Zweitens geht es auch hier wieder um Privilegien. Sandberg kann es sich leisten, sich verwundbar zu zeigen, weil sie in einer mächtigen Position ist und weil sie sich zu Schwäche bekennt, die sie inzwischen überwunden hat. Die meisten Frauen aber würden einen sehr hohen Preis zahlen, wenn sie sich am Arbeitsplatz verletzlich zeigten. Ich weiß zum Beispiel aus meiner Forschung zu Frauen, die aus der Arbeitswelt ausscheiden, dass ihre Offenheit gegen sie verwendet wurde. Sagten sie ihren Chefs zum Beispiel, dass sie sich schwertäten, ihre Arbeitszeiten mit der Kinderbetreuung zu vereinen, wurde ihnen mangelnder Einsatz vorgeworfen und sie wurden weniger befördert. Drittens ist der Appell für mehr Verletzlichkeit auch wieder primär an Frauen gerichtet. Es sind immer die Frauen, die ihre Komplexe beichten und dann zeigen, wie sie sie überwunden haben.
ZEIT ONLINE: Hatte die Pandemie irgendeinen Einfluss auf die Kultur des Selbstvertrauens?
Orgad: Anfangs dachten wir noch, die Pandemie würde sie hinterfragen, vielleicht sogar beenden, denn sie machte soziale Ungleichheiten sehr sichtbar. Frauen, und vor allem arme Frauen und Frauen of Color, waren so viel stärker betroffen von geschlossenen Schulen, fehlender Kinderbetreuung und verlorenen Jobs. Und wir hatten ein bisschen Hoffnung, dass die Gesellschaft jetzt endlich merken würden, wie viel Schaden der Neoliberalismus angerichtet hat. Doch je länger die Pandemie dauerte, desto stärker wurden die Diskurse rund um Selbstvertrauen und Resilienz. Gerade Frauen wurde immer wieder gesagt, sie sollten einfach fünf Minuten lang ruhig atmen. Für Frauen, die in der Pandemie ihren Job aufgeben oder ihre Arbeitszeit reduzieren mussten und jetzt zurückkehren wollen, gibt es jetzt Programme, um ihr Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Es geht also schon wieder um ganz individualisierte Ansätze, wie man sich selbst attraktiv und vermarktbar macht in der Arbeitswelt – fast ohne irgendeine Debatte darüber, dass der Staat oder die Unternehmen verantwortlich sind für die Menschen, die ihre Arbeit oder ihr Selbstvertrauen verloren haben. So hilfreich Selbsthilfe-Apps für Einzelne auch sein mögen, sie sind keine Antwort auf eine so massive, kollektive Krise.
ZEIT ONLINE: Kann man diesen ganzen Forderungen nach Selbstoptimierung eigentlich entkommen?
Orgad: Es geht uns gar nicht darum, auszusteigen. Wut ist das, was wir brauchen, um uns gegen diese Anforderungen zu wehren. Sie erlaubt es uns, strukturelle Ungerechtigkeiten zu erkennen und die Bereiche zu sehen, in denen wir nicht einfach weitermachen sollten, in denen wir die Revolution nicht verinnerlichen und die Schuld nicht auf uns schieben sollten. Wir sind weder das Problem, noch tragen wir die Lösung in uns. Es ist das System, das kaputt ist.